Sei Dein eigener Chef!
Die Erfahrung der Selbstverwaltung in den argentinischen Fabriken.
Beinahe zehn Jahre lang hatte sich Carlos Menem, der damalige Präsident Argentiniens, in der Rolle des Musterschülers des Internationalen Währungsfonds (IWF) gefallen. Er koppelte den argentinischen Peso an den US-Dollar, privatisierte in großem Stil staatliche Betriebe, baute Einfuhrbeschränkungen ab, strich die Zahl der Staatsbediensteten zusammen und dergleichen mehr. Die künstliche Parität von Dollar und Peso erlaubte es der Mittelschicht, sich lang gehegte Konsumträume zu erfüllen. Sie dankte es ihrem Präsidenten mit politischer Unterstützung. Und während Michel Camdessus, der damalige Direktor des IWF, die Regierung lobte und Argentinien dem Rest der Welt als Modellstaat empfahl, wähnte sich die herrschende Klasse kurz vor der Aufnahme in den exklusiven Club der Länder der Ersten Welt.
Als Menem jedoch abtrat, hinterließ er seinem Nachfolger Fernando de la Rúa eine mehr als zweifelhafte Erbschaft. Seit 1998 wurde die argentinische Wirtschaft von einer Rezession geplagt. Gewählt wurde de la Rúa, um das Land aus der Krise zu führen. In die Geschichte eingehen wird er als der Präsident, der von der Bevölkerung aus dem Amt gejagt wurde. Als die Abwertung des Peso zu einem Ansturm auf die Banken führte, verfügte de la Rúa, die Konten der Mittel- und der Oberschicht zu sperren. Diese Verzweiflungstat erwies sich als entscheidend. Die aufgebrachte Mittelschicht schloss sich den Protesten der Arbeitslosen an, die am 19. und 20. Dezember 2001 die Straßen beherrschten. Das Bild, das von de la Rúa bleiben wird, ist das seiner Flucht. Mit dem Hubschrauber musste er sich vor dem Ansturm der wütenden Menge in Sicherheit bringen lassen.
Zehn Jahre hatten die Konsumträume gewährt. Dann folgte ein böses Erwachen, eine gesellschaftliche Krise, wie es sie in der argentinischen Geschichte noch nicht gegeben hat. Die Arbeitslosigkeit liegt heute bei 23 Prozent, d.h. mehr als 2,5 Millionen Argentinier haben keinen Job. Zusätzlich gelten 20 Prozent derjenigen, die einer bezahlten Arbeit nachgehen, als unterbeschäftigt. Der Realwert der Einkommen fiel auf das Niveau der vierziger Jahre. Beinahe die Hälfte der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung befindet sich in einer ökonomisch prekären Situation. Und die Arbeitslosigkeit ist nur deswegen nicht noch höher, weil seit dem Jahr 2000 mehr als 260 000 Argentinier auswanderten. In den Jahren der Militärdiktatur (1976 bis 1983) verließen nicht einmal 40 000 Menschen das Land.
Von 37 Millionen Einwohnern befinden sich heute nach Regierungsangaben 21 Millionen unterhalb der Armutsgrenze. Mit Hilfsprogrammen versucht die Regierung zu verhindern, dass noch mehr Menschen ins Elend sinken. Mehr als 2,4 Millionen Familien erhalten 150 Pesos im Monat, was kaum mehr als ein Almosen ist.
Auf den Straßen von Buenos Aires sind die Zeichen der Krise allgegenwärtig. In der U-Bahn versuchen Kinder wie Erwachsene, alles zu verkaufen, was sich zu Geld machen lässt. Schier endlose Schlangen bilden sich dort, wo man eine Mahlzeit umsonst bekommen kann. Nachts kann man zehntausende Menschen beobachten, die den Müll nach Papier und Pappe durchstöbern. Man nennt sie Cartoneros. So lässt sich etwas Geld verdienen. Bis vor kurzem machten das nur die Jüngeren unter den Arbeitslosen. Mittlerweile streifen ganze Familien durch die Straßen der Hauptstadt, um sich ein notdürftiges Überleben zu sichern.
In einem Viertel wie Puerto Madero lassen sich die Folgen der Wirtschaftskrise besonders gut beobachten. Früher ein heruntergekommenes Hafenviertel, begann man hier Mitte der neunziger Jahre, Millionen Dollar zu investieren. Architektonisch gewagte Bürobauten wurden hochgezogen. Große Unternehmen sollten sich hier ansiedeln, ebenso Hotels, Luxusgeschäfte und Restaurants für Touristen und alle, die Geld haben. Die Yachten, die in dem kleinen Fluss vor Anker lagen, rundeten das Bild ab.
Dieses Mittelklasseidyll aus Geschäft und Freizeit wurde durch die turbulente Entwicklung der argentinischen Wirtschaft Ende der neunziger Jahre empfindlich gestört. Dem Betrachter bietet sich nunmehr ein bizarrer Anblick. Neben modernen Türmen und eleganten Yachten finden sich unvollendete Rohbauten und vor sich hin rostende Kräne. Ein Bild mit Symbolkraft. Die herrschende Klasse der Länder der Peripherie versucht, jeden Aufschwung für eine nachhaltige Modernisierung zu nutzen. Da jedoch das internationale Geld ebenso regelmäßig wieder ausbleibt, wie es kam, scheitern ihre Pläne.
In den dabei entstehenden Ruinenlandschaften sammeln sich nun zehntausende Argentinier und bilden unzählige Organisationen, die das Ziel haben, alternative Konzepte zu finden. An den Rändern der großen Städte schließen sich Arbeitslose, so genannte Piqueteros, zu einer Bewegung zusammen, die dem Staat die Stirn bietet und das Leben in den Stadtvierteln selbstständig organisiert. Ähnliches leisten die Stadtteilversammlungen in den Vierteln der Mittelschicht.
Die Wirtschaft des Landes ist in den letzten Jahren um ein Fünftel geschrumpft. 4 000 Fabriken haben ihre Tore geschlossen. Aber Tausende von Arbeitslosen weigern sich, der industriellen Reservearmee beizutreten. Das Privateigentum ist für sie kein Tabu mehr. Sie besetzen die von ihren Besitzern aufgegebenen Fabriken. Sie besetzen, um zu produzieren.
Sinn produzieren
Noch lässt sich kein genaues Bild der Umwälzungen in den besetzten Fabriken zeichnen. Das Phänomen ist zu neu, es gibt wenige Erfahrungswerte und erst eine wissenschaftliche Studie. Ein Team um Gabriel Fajn von der Universidade de Buenos Aires hat die besetzten Fabriken untersucht. Allerdings wurde seine Arbeit zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, als erst 87 Fabriken besetzt waren. Die Zahl wird heute auf 130 geschätzt. Mehr als 10 000 Arbeiter produzieren in eigener Regie. Per E-Mail hat Fajn mir einige Fragen beantwortet.
Demnach gelten vier von fünf der von ihm untersuchten Fabriken als klein, d.h. ihre Belegschaft liegt durchschnittlich bei 38 Arbeitern. Schaut man auf die Produktionskapazitäten, lässt sich feststellen, dass die besetzten Betriebe ihre Kapazität im Schnitt zu 52 Prozent ausschöpfen, bei der Mehrzahl der Betriebe lag dieser Wert bei 40 Prozent. Jedoch haben sieben von zehn Fabriken das Produktionsniveau der Zeit vor der Besetzung erreicht oder sogar übertroffen. Für die Gehälter ergab die Untersuchung, dass sie in 16 Prozent der Fälle gleich blieben, in drei von zehn Fällen gestiegen, in 52 Prozent gefallen sind.
Um diese Zahlen einordnen zu können, ist zu berücksichtigen, dass in vielen Fabriken auch leitende Angestellte und Mitglieder der Geschäftsführung weiter arbeiten. Deren Gehälter sind in der Regel stark gefallen, während die der einfachen Arbeiter stiegen. Es gibt auch Ausnahmen wie die Stahlhütte Union y Fuerza, der es innerhalb von zwei Jahren gelang, sämtliche Schulden zu begleichen, einen neuen Hochofen für 90 000 Pesos zu kaufen, einen Kupfervorrat von 140 Tonnen anzulegen und die Gehälter um das Vierfache anzuheben.
An den Arbeitszeiten hat sich nicht viel geändert. In der Regel blieben sie bei acht Stunden pro Tag, in einigen Fällen lagen sie etwas darunter. Ob die Selbstverwaltung zu einem höheren Maß an Selbstausbeutung führt, war eine der zentralen Fragen des Forscherteams. Der Großteil der Fabriken fuhr die Produktion zurück, und auch in Betrieben, wo sie erhöht wurde, konnte keine Zunahme der Ausbeutung der Arbeitskraft festgestellt werden. Das mag daran liegen, dass in 90 Prozent der Fälle die innerbetrieblichen Hierarchien abgebaut wurden.Fajn kam ferner zu dem Ergebnis, dass in nur einem von vier Fällen eine Übereinkunft zwischen dem Vorstand und den Arbeitern erzielt wurde, während es bei den verbleibenden 75 Prozent der Besetzungen zu Straßenprotesten und Konfrontationen mit der Polizei kam. Aus diesem Grund ist auch die rechtliche Situation in vielen Fabriken ungeklärt. In den meisten Fällen stimmte der Staat zwar einer auf zwei Jahre befristeten Enteignung der Gebäude und Maschinen zu, aber es ist offen, was nach dem Ablauf dieser Frist geschehen wird. Die Arbeiter kämpfen darum, als Eigentümer der Fabriken anerkannt zu werden. Die immensen Schulden, die von den alten Besitzern angehäuft wurden, stärken ihre Position.
Die selbst verwalteten Fabriken teilen sich in zwei Kategorien. Auf der einen Seite gibt es die Kooperativen und auf der anderen die Betriebe unter Arbeiterkontrolle. Zur ersten zählt die große Mehrheit der Fabriken. Nach der Ansicht Fajns verfügen die Kooperativen zwar über einen straffer organisierten Prozess der Entscheidungsfindung, sie sind aber nur schwach politisiert. Es gibt wenig Austausch mit anderen sozialen Akteuren, und intern konzentriert sich das Know-how bei einigen Bürokraten.
Die Kooperativen zerfallen in drei Hauptströmungen. Da ist der MNER (Nationale Bewegung der geretteten Unternehmen), dem rund 40 Unternehmen angehören. Peronisten, einige »unbürokratische« regionale Gewerkschaftsführer und die CTA (Zentrale der argentinischen Arbeiter) kooperieren hier miteinander. In diesem Jahr hat sich der MNFR (Nationale Bewegung der geretteten Fabriken) vom MNER abgespalten. Auch dieses Bündnis umfasst rund 40 Fabriken und steht mehrheitlich den Peronisten nahe. Dann gibt es noch den Fencoter, dem rund 20 Unternehmen angehören. Hier finden sich viele Peronisten, die enge Kontakte zu Vertretern des Staates pflegen.
In den Fabriken unter Arbeiterkontrolle dagegen ist, immer noch nach Fajn, die politische Diskussion höher entwickelt. Sie verfolgen eine langfristige politische Strategie und stehen in enger Verbindung zu anderen sozialen Bewegungen und den Parteien der Linken. Zu ihren aktivsten Mitgliedern zählen die mittlerweile geräumte Firma Brukman, eine Textilfabrik in Buenos Aires, Zanon, ein Keramikhersteller aus Neuquen, der Supermarkt Ex-Tigre aus Rosário, die Clínica Junín aus Cordoba sowie weitere Fabriken. Ihre Vertreter treffen sich alle zwei Wochen in der Solidaritätskommission für die besetzten Fabriken.
An zwei dieser Treffen konnte ich teilnehmen. Deutlich wurde dabei der Versuch, weitere Fabriken für die Bewegung zu gewinnen sowie eine politische Diskussion über den Charakter der Besetzungen zu führen. Da die Bewegung wachsen muss, gibt es auch keine Einschränkungen für die innerbetriebliche Organisation der beitrittswilligen Fabriken. Die Arbeiter sind sich der Bedeutung der von ihnen gemachten Erfahrungen bewusst. Oft sprechen sie davon, dass dies die Prüfung sei, ob sie in der Lage sind, die Produktion für die ganze Gesellschaft zu planen. Manche sprechen gar vom Sozialismus in einem Laborversuch. Da die Wiederaufnahme der Produktion in den besetzten Fabriken oft Monate dauert, haben sie einen Unterstützungsfonds gegründet, zu dem neben Brukman und Zanon vor allem eine spanische NGO beiträgt.
Um für die Ziele ihres Kampfes zu werben, wurde eine Kommission eingerichtet, die den besetzten Fabriken Besuche abstatten soll. Tauschnetze sollen zwischen den Fabriken aufgebaut werden, und über den Supermarkt Ex-Tigre wurde bereits ein Verkaufszentrum für die in den besetzten Fabriken hergestellten Produkte gegründet. Noch ist es eine Minderheit, die so denkt und handelt, aber im März dieses Jahres fand das dritte nationale Treffen der besetzten Fabriken statt, an dem hunderte Abgesandte der diversen Unternehmen teilnahmen. Mittlerweile publizieren sie ein eigenes Journal und arbeiten mit Studenten und Filmemachern an der Produktion von Videos zur Verbreitung ihrer Ideen.
Wozu braucht man einen Chef?
Nach einer 16stündigen Busfahrt von Buenos Aires in Richtung Patagonien komme ich schließlich in Neuquen an. Neuquen ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, hat 300 000 Einwohner und liegt 1 200 Kilometer südwestlich von Buenos Aires. Die Provinz lebt in erster Linie von den Einnahmen aus der Erdölförderung, die allerdings nicht mehr so üppig sind, seit die Industrie privatisiert wurde.
Seit meiner Ankunft in Argentinien habe ich viel über Zanon gehört. In der Arbeitslosenbewegung von Cordoba und Buenos Aires war das Werk ebenso ein Thema wie in anderen besetzten Fabriken. Das liegt daran, dass es sich im Unterschied zu den meisten anderen Okupas um eine große Fabrik handelt, vor allem aber um eine der politisch aktivsten. Während meiner vier Tage in Neuquen werde ich von Tatiana begleitet, einer Soziologiestudentin, die einer kleinen trotzkistischen Partei angehört. Sie kennt die meisten Arbeiter der Fabrik, was mir die Kontaktaufnahme erheblich erleichtert.
Die Fabrik liegt im Industriegebiet der Stadt. Das erste, was ins Auge fällt, wenn man sich dem Komplex nähert, ist ein großes, weißes Transparent mit einem grünroten Z, dem Firmenzeichen. Die Farben erinnern an die italienische Herkunft der ehemaligen Besitzer. Nachdem die Familie Zanon die Kontrolle über das Werk verlor, fügten die Arbeiter dem traditionellen Logo mit schwarzer Farbe den Satz hinzu: »Zanon gehört den Arbeitern.«
Gleich am Eingang der großen Empfangshalle befindet sich ein kleiner Verkaufsstand, wo die Produkte der Firma besichtigt und erworben werden können. Die Haupthalle, in der sich die Fertigungsstraßen befinden, misst 350 mal 250 Meter. Im Innern zeugen Hunderte von Maschinen, fast alle aus Italien, und etliche Computer vom hohen technischen Niveau der Produktion. Neben der Haupthalle befinden sich eine geräumige Lagerhalle und eine Art Parkplatz, wo die Keramikprodukte gestapelt werden, bevor man sie auf die Firmen-Lkw verlädt. Zum Werksgelände gehört schließlich noch ein großer Garten.
Früher haben bei Zanon mehr als 600 Menschen gearbeitet. Man zählte zu den führenden argentinischen Unternehmen in der Keramikherstellung. Der Anteil am heimischen Markt betrug 20 Prozent, in über 30 Länder wurden die Produkte exportiert. Der jährliche Umsatz belief sich beinahe auf 100 Millionen US-Dollar. Man konnte auf großzügige Hilfen vom Staat in Form von Subventionen und Steuererleichterungen zählen und profitierte von einer unfairen Übereinkunft mit den Mapuche, einer indigenen Bevölkerungsgruppe aus der Gegend. Denn die Erde, die in der Fabrik verarbeitet wurde, bezog man aus deren Gebiet.
Vertreter des Unternehmens, des Staates und der Mapuche hatten sich auf einen lächerlich niedrigen Preis geeinigt, aber nicht einmal diese Summe wollte das Unternehmen zahlen. Eine der ersten Maßnahmen der Arbeiter nach der Besetzung des Werkes war es, einen neuen Vertrag mit den Mapuche auszuhandeln und die Zahlungen aufzunehmen. Ein Plakat zum ersten Jahrestag der Besetzung zeigt Luigi Zanon, den Besitzer der Fabrik, wie er zusammen mit dem damaligen Präsidenten Carlos Menem und dem Gouverneur von Neuquen ein Glas Champagner trinkt. Der Anlass für die Feier war die Zusage über weitere staatliche Subventionen. Das Foto entdeckten die Arbeiter bei der Besetzung an der Wand von Luigi Zanons Büro.
Wir unterhalten uns mit Carlos Saavedra, dem von der Betriebsvollversammlung gewählten Koordinator der Fabrik, der von seinen Kollegen nur Manotas (»große Hände«) genannt wird. Er empfängt uns in seinem kleinen Büro. Einen Tisch, ein paar Stühle, einen Computer und eine Kaffeemaschine, mehr gibt es dort nicht. Manotas ist 43 Jahre alt und arbeitet seit zehn Jahren für Zanon. Vor der Besetzung war er einer von 81 Abteilungsleitern, aber nur er und ein Kollege nahmen an den ersten Betriebsversammlungen im Jahr 2000 teil. »Die Abteilungsleiter stehen im Ruf, Spitzel der Fabrikleitung zu sein. Und die meisten waren es tatsächlich. Es dauerte eine Weile, bis die Arbeiter Vertrauen zu uns fassten«, sagt er.
Manotas erzählt uns die Geschichte des Kampfes gegen den Unternehmensvorstand. Die Auseinandersetzungen begannen eineinhalb Jahre vor der Besetzung. Vom März 2000 an wurde den Beschäftigten nicht mehr der volle Lohn ausgezahlt. Obwohl die Produktions- und Verkaufszahlen nicht schlecht waren, begründete die Geschäftsleitung diesen Schritt mit der wirtschaftlichen Krise, die das Land und auch das Unternehmen erfasst habe. Um ihre Arbeitsplätze zu erhalten, müssten sie bereit sein, weniger Lohn zu erhalten, wurde der Belegschaft mitgeteilt.
Einige Monate später kam es zum Streik. Der Auslöser war ein Unfall, bei dem ein junger Arbeiter starb. Das Sicherheitssystem in der Fertigung hatte nicht funktioniert. Schon seit längerem hatten die Arbeiter auf Mängel im Sicherheitsbereich aufmerksam gemacht, ohne je eine Antwort aus der Chefetage erhalten zu haben. Nach diesem Vorfall im Juli reichte es den Arbeitern. Sie beschlossen zu streiken, das erste Mal in der Geschichte des Unternehmens.
Neun Tage lang kämpften sie für die Einhaltung der Sicherheitsvorschriften und die Zahlung der noch ausstehenden Löhne. Monate verstrichen, doch die Geschäftsleitung machte keine Anstalten, den Forderungen nachzukommen. »Im November 2000 gab es dann die ersten Betriebsversammlungen. Wir haben eingesehen, dass es notwendig ist, uns zu organisieren, damit wir etwas gegen die sich täglich verschlechternden Zustände erreichen können. Dadurch haben wir dann langsam wirklich an Einfluss gewonnen«, erinnert sich Manotas.
Da Luigi Zanon keine Bereitschaft zeigte, ihnen entgegenzukommen, beschlossen die Keramikarbeiter, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Manotas ereifert sich: »Es gibt ein Wort dafür, wenn man arbeitet, ohne dafür bezahlt zu werden: Sklaverei! Wir hatten die Nase voll von der unnachgiebigen Geschäftsführung, und im März 2001 haben wir beschlossen, die Produktion auf unbestimmte Zeit einzustellen.«
34 Tage lange dauerte der Streik. Der vom Arbeitsministerium der Provinz vermittelte Kompromiss sah vor, dass die Lohnrückstände der Arbeiter beglichen werden sollten. »Das war ein sehr schwieriger Moment für uns alle. Wir haben uns entschieden, auf die Straße zu gehen, damit die Öffentlichkeit von der Situation bei Zanon erfährt. Wir haben auch gemerkt, dass die Bevölkerung, besonders der ärmeren Viertel, uns unterstützte. Als wir einen weiteren Monat lang nichts bekamen, mussten wir auf der Straße auch Spenden für unsere Streikkasse sammeln, Geld oder Lebensmittel. Das war auch der Punkt, an dem wir angefangen haben, Kontakte zu anderen Organisationen wie z.B. der Arbeitslosenbewegung zu suchen.«
Welche Haltung die Arbeiter gegenüber der Gewerkschaft einnehmen würden, war von entscheidender Bedeutung. Die alte Gewerkschaftsführung hatte bisher stets die Interessen der Geschäftsleitung vertreten. Es gelang den Keramikarbeitern von Zanon jedoch, durch Absprachen mit den Arbeitern anderer Unternehmen per Wahl die Leitung der Keramikgewerkschaft zu übernehmen.
Die neue Einigkeit machte sich im Juni 2001 bezahlt. Luigi Zanon wollte durch Massenentlassungen die aufmüpfigen Arbeiter zur Räson bringen. »An einem einzigen Tag hat er 28 Kollegen zu sich bestellt, um ihnen die Kündigung auszusprechen. Ich war einer davon«, berichtet Manotas. »Aber unsere Kollegen haben sich mit uns solidarisch erklärt und sich geweigert, die Entlassungen zu akzeptieren.«
Die Situation in der Fabrik war nun völlig verfahren. Im September ließ Zanon einfach die Gaszufuhr zu den Öfen abstellen. Er entschied sich, die Fertigung fürs Erste einzustellen. »An diesem Tag kamen wir zur Arbeit, und wir wollten unseren Augen nicht trauen, als wir sahen, was geschehen war«, erzählt Manotas. Die Keramikarbeiter erstatteten Anzeige gegen Zanon wegen nicht geleisteter Lohnzahlungen. Die mit dem Fall befasste Richterin wertete das Verhalten des Unternehmers als eine illegale Aussperrung und sprach den Arbeitern das Recht zu, die Bewachung der Gebäude und Maschinen zu übernehmen. Die von Zanon bis zu diesem Zeitpunkt durch nicht gezahlte Löhne, Sozialabgaben und Steuern angehäuften Schulden beliefen sich auf 75 Millionen Pesos.
In den folgenden sechs Monaten befanden sich die Arbeiter von Zanon rund um die Uhr im Einsatz. Sie mussten das nötige Geld für ihren Lebensunterhalt zusammenbekommen, da sie keine Löhne mehr von der alten Geschäftsführung zu erwarten hatten, sie mussten Wache schieben, damit Zanon das Werk nicht wieder unter seine Kontrolle bringen konnte, und sie mussten versuchen, die Produktion wieder in Gang zu bringen. »Im Februar«, sagt Manotas, »haben wir uns auf einer Versammlung entschlossen, die Produktion wieder aufzunehmen, aber jetzt unter der Kontrolle der Arbeiter. Wir hatten schon von vielen Fabriken in Argentinien gehört, die in die Kontrolle der Belegschaften übergegangen waren. Also fragten wir uns, warum nicht auch wir in der Lage dazu sein sollten.«
Arbeiten und Tee trinken
»Der erste Arbeitstag nach dieser Entscheidung war schon ziemlich eigenartig«, erklärt uns Angel, der an den Öfen der Fabrik arbeitet. »Wir waren es gewohnt, jemanden zu haben, der uns die ganze Zeit kontrolliert. Denn woran es hier keinen Mangel gab, das waren Vorgesetzte. Überall und für alles gab es Vorgesetzte. Wir konnten nicht mal den Fertigungsbereich verlassen, um kurz mit einem Freund zu quatschen. Sofort kam jemand und schickte uns zurück an den Arbeitsplatz.« Alle mussten im Produktionsalltag erst lernen, wie man die Organisationsprobleme am besten löst.
Heute gibt es hier keine Bosse oder Hierarchien mehr. Alles wird gemeinsam auf Betriebsversammlungen entschieden, und dieser Prozess funktioniert immer besser. Im Juli 2002 erkannte man, dass eine stärkere Zentralisierung der Organisation von Vorteil wäre. Deshalb wurde beschlossen, für die unterschiedlichen Abteilungen der Fabrik Koordinatoren zu wählen, in der Regel diejenigen, die schon am längsten in der jeweiligen Abteilung arbeiten. Jeder kann aber jederzeit wieder durch ein Votum der Vollversammlung von seiner Aufgabe entbunden werden. Mindestens einmal pro Woche versammeln sich die Arbeiter einer Abteilung, um über die Lage dort zu diskutieren und gegebenenfalls die Arbeitsabläufe zu verändern. Einmal im Monat findet eine Vollversammlung statt, auf der nicht nur die Probleme in der Produktion besprochen werden, sondern auch, wie man politisch nach außen auftreten möchte.
Außerdem verdienen alle den gleichen Lohn. »Gleiches Geld für gleiche Arbeit«, heißt es in der Fabrik. Von der Putzkraft bis zum Fabrikkoordinator bekommen alle 800 Peso im Monat. Früher bewegten sich die Löhne zwischen 650 und 900 Peso. Die Abteilungsleiter und die Geschäftsführung verdienten noch mehr.
Theoretisch hat sich der Arbeitstag im Werk nicht verändert. Gearbeitet wird acht Stunden pro Tag von Montag bis Samstag. In der Praxis jedoch ist ein heutiger Arbeitstag mit einem von früher kaum zu vergleichen. Als ich durch die Fabrik ging, traf ich eine Gruppe von Arbeitern, die beisammen saßen, sich unterhielten und Mate-Tee tranken, während sie einige ihrer Aufgaben erledigten.
»Früher haben wir wirklich acht Stunden am Tag gearbeitet. Wir hatten kaum Zeit, zwischendurch Luft zu holen, weil uns immer irgendjemand zur Arbeit anhielt. Heute ist das anders. Normalerweise arbeiten wir ein bisschen, machen dann eine kleine Pause, trinken Mate und gehen dann zurück zur Arbeit. Ich denke, dass wir so vier bis fünf Stunden am Tag arbeiten. Guck dir das an! Da ist unser Koordinator«, sie zeigt auf einen etwas älteren Mann, der mit einer Maschine beschäftigt ist, »und hier sitzen wir, trinken ein wenig Mate und reden. Daneben braucht man dann noch Zeit für die Versammlungen, aber das ist einfacher, als am Fließband zu stehen«, bekomme ich von Rosa zu hören, einer der acht Frauen, die in der Fabrik arbeiten.
Während der Zeit, als die Produktion ruhte, hatte sie Probleme mit ihrem Mann, weil sie zusammen mit ihren Kollegen auf der Straße protestierte und auch die Fabrik bewachte. »Er hat gesagt, Politik ist nichts für Frauen. Aber eigentlich ist er nur eifersüchtig gewesen, weil ich in dieser Zeit kaum zu Hause war. Er hat mir sogar gedroht: entweder die Ehe oder die Arbeit. Natürlich habe ich mich davon nicht beeindrucken lassen. Am Ende hat er eingesehen, dass unser Kampf hier gerecht ist.« Rosa ist nicht die einzige, die zu Hause Probleme bekam. Einige Ehen gingen zu Bruch unter dem Druck, dem die Keramikarbeiter monatelang standhalten mussten.
Von Rosa erfahre ich auch eine der amüsanteren Geschichten aus der Zeit nach der Besetzung. »Nachdem wir beschlossen hatten, die Produktion wieder aufzunehmen, hatten wir erst riesige Probleme. Die Lieferanten wollten uns nicht beliefern, und die Händler wollten uns nichts abnehmen. Sie hatten Angst davor, Schwierigkeiten mit dem alten Chef zu bekommen. Also haben wir einen unserer größten Abnehmer besucht, eine Baumarktkette. Nach stundenlangen Gesprächen haben wir sie überzeugt, dass wir wieder so wie früher produzieren würden, dass wir nicht überleben könnten, wenn keiner unsere Ware kauft, und dass es für sie keinerlei Probleme geben werde, wenn sie unsere Keramik kaufen. Sie stellten uns aber eine Bedingung. Sie verlangten von uns einen neuen Namen und eine andere Verpackung für unsere Produkte. Wir sagten, okay, wir werden uns auf unserer nächsten Versammlung über einen neuen Namen unterhalten.«
Sie geht zu einem Stapel Pappkartons und kommt stolz lächelnd mit einem davon zurück. Darauf steht der neue Markenname: Fasinpat. »Weißt du, was das bedeutet?«, fragt sie mich triumphierend. Ich verneine. »Fasinpat bedeutet ›Fábrica sin Patrón‹, Fabrik ohne Chef. Das ist unser neuer Name!«
Bedenkt man all die Schwierigkeiten, mit denen die Keramikarbeiter fertig werden mussten – insbesondere in Zeiten der argentinischen Wirtschaftskrise –, dann verwundert es nicht, dass die Produktivität des Werkes noch immer weit unter dessen Kapazität liegt. Es gibt 19 Fertigungsstraßen, aber gearbeitet wird zurzeit höchstens an fünf oder sechs. So können 80 000 Quadratmeter Keramik im Monat hergestellt werden. In der Zeit vor der Besetzung wurden monatlich im Schnitt 500 000 Quadratmeter produziert. Ausgelegt ist das Werk für eine monatliche Produktion von einer Million. Davon ist man im Moment noch sehr weit entfernt, aber die Produktion nimmt stetig zu. Als man mit der Fertigung wieder anfing, arbeiteten hier 270 Leute. Mittlerweile sind 30 weitere aus den sozialen Bewegungen bzw. den Parteien der Linken hinzugekommen.
Dieser Austausch mit anderen sozialpolitisch aktiven Gruppierungen wird von den Arbeitern gesucht. »Wir stehen auf zwei Beinen, dem der Produktion und dem der Politik. Nur wenn beide gesund sind, können wir laufen.« So beschreiben die Keramikarbeiter heute die Situation ihres Betriebes. Nur mit einer solchen Einstellung konnten sie auch drei Versuche abwehren, die Fabrik von der Polizei räumen zu lassen – den letzten davon im April dieses Jahres. Wann immer es eine Bedrohung für das Werk geben könnte, stehen Hunderte von Menschen, die meisten aus der Arbeitslosenbewegung, bereit, es zu verteidigen.
Diese Verbindung von Produktion und Politik reicht weit über das Fabrikgelände hinaus. Zusammen mit der Belegschaft der Firma Brukman aus Buenos Aires gehören die Arbeiter von Zanon zu jenen, die am vehementesten eine »Verstaatlichung der Fabriken unter der Kontrolle der Arbeiter« fordern. Manotas drückt die Ziele so aus: »Wir wollen kein kapitalistisches Unternehmen wie all die anderen sein. Wir wollen nicht einfach Keramik herstellen, und sie dann auf dem Markt an denjenigen verkaufen, der in der Lage ist, sie zu bezahlen, und so möglichst hohe Gewinne einstreichen. Wenn es so wäre, dann könnten wir hier längst mehr als 800 Peso verdienen. Aber das ist nicht unser Ziel, denn uns ist klar, dass wir auf Dauer alleine nicht überleben können. Was wir fordern, ist Verstaatlichung. Erst mal wollen wir, dass der Staat die notwendigen Investitionen tätigt, damit wir hier die Produktion und die Zahl der Arbeitskräfte steigern können. Was uns aber besonders am Herzen liegt: Wir möchten für die konkreten Bedürfnisse der Gesellschaft produzieren. Das heißt, wir möchten Keramik für Schulen und Krankenhäuser, für billige Wohnungen herstellen. Es sollte auch einen Plan für öffentliche Bauvorhaben geben, die der Staat finanziert. So könnten viele Menschen Arbeit finden, und die Produktion würde der Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung dienen. Auf diese Weise würden alle vom Gewinn der Fabrik profitieren.« Diese Forderung nach einer »Entmarktung« der Produktion ist wohlgemerkt keine einzelne Stimme, sondern das Ergebnis einer Betriebsvollversammlung.
Es ist sicherlich richtig, dass der Staat, zumal in der gegenwärtigen politischen Situation des Landes, niemals bereit wäre, solchen Forderungen nachzukommen. Das hindert die Keramikarbeiter aber nicht daran, gemeinsam mit der Bevölkerung und einzelnen Politikern dafür zu kämpfen. Und solange sie sich noch nicht durchgesetzt haben, starten sie Initiativen, die in eine ähnliche Richtung weisen. In den letzten Monaten hat z.B. die Provinzregierung von Neuquen von den ehemaligen Besitzern gemachte Schulden bei Zanon eintreiben wollen. Die Arbeiter der Fabrik willigten ein, einen Teil der Schulden zu begleichen, allerdings nur unter der Bedingung, dass sie mit Keramikprodukten zahlen könnten, die in öffentlichen Gebäuden oder sozialen Einrichtungen Verwendung finden müssten.
»Das war eine Möglichkeit, die Schulden so abzutragen, dass alle etwas davon haben und das Geld nicht in einem dubiosen Provinzhaushalt verschwindet«, erklärt Manotas. Außerdem sammeln die Mitarbeiter von Zanon Geld für den Bau einer Fabrik zur Herstellung von Pappkartons. Die Kartons benötigen sie zur Verpackung ihrer Produkte, und in der Produktion könnten Mitglieder der örtlichen Arbeitslosenbewegung eine Beschäftigung finden.
Der Kampf gegen die Geschäftsleitung, die alten Gewerkschaftsfunktionäre und den Staat dauert nun schon mehr als zwei Jahre. Ohne die Erfahrungen, die die Keramikarbeiter in ihm gesammelt haben, wäre der Wandel in ihrem politischen Bewusstsein nur schwer zu erklären. Die große Mehrheit von ihnen verfügte anfangs über keinerlei politische Erfahrungen. »Wenn ich früher die Arbeitslosenproteste gesehen habe, dann ging mir das immer gewaltig auf die Nerven. Sie waren da auf der Straße und blockierten alles. Ich fand es einfach nur absurd. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, worum es dabei eigentlich ging«, gesteht Angel. »Jetzt bin ich selbst einer von denen, die auf der Straße protestieren. Ich habe begriffen, dass wir nichts erreichen werden, wenn wir nur hier in der Fabrik bleiben und unsere Keramik herstellen. Das bringt auch viele Probleme mit sich, denn was wir hier machen, ist ja irgendwie antikapitalistisch.«
Bewusstseinswandel
Alle Arbeiter, denen ich begegnet bin, habe ich gefragt, ob sie sich vorher hätten vorstellen können, dass es möglich sein könnte, die Produktion einer so großen Fabrik ohne Vorstand und Hierarchien aufrechtzuerhalten. Die Antworten ähnelten sich. Stellvertretend für alle kann hier Angel stehen: »Absolut nicht! Früher waren wir bloß an den Planungen für unsere Abteilung beteiligt. Heute dagegen zeigen wir, dass wir in der Lage sind, demokratisch den kompletten Produktionsprozess im Werk zu organisieren.«
Und so haben sich tausende argentinische Arbeiter daran gemacht, ein weiteres Kapitel in der so wenig bekannten Geschichte der Selbstverwaltung zu schreiben. Deren Anfänge liegen in den ersten Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die argentinischen Fabrikbesetzer haben wieder einmal bewiesen, dass die Vorstellung einer Gesellschaft ohne Herrschende, ohne Privatbesitz an Produktionsmitteln, in der die Produkte der menschlichen Arbeit nicht zu Waren verkommen, sondern zur Befriedigung der konkreten Bedürfnisse aller Menschen produziert werden, keine naive Utopie ist. In einer solchen Gesellschaft wird die Frage, was mit welchen Mitteln für wen zu produzieren sei, nicht sinnlos sein, sondern sie wird zur Grundlage der gesellschaftlichen Organisation werden.
Die Rechte hat immer versucht, Erfahrungen wie die im Spanien der dreißiger Jahre, im Jugoslawien und Bolivien der fünfziger und sechziger, im Peru der sechziger und im Chile der siebziger Jahre gemachten aus der Welt zu schaffen. Aber die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie bestätigt nur immer wieder deren Aktualität.
(Marco Fernandes, aus: Jungle World 33/03)